Weltwärts in Nicaragua

Straße in Nicaragua

Das schwierigste für mich, wenn ich über mein Jahr in Nicaragua berichte, ist immer die Informationen zu bündeln und mich selbst davor zu stoppen, alles erzählen zu wollen. Mein Kopf ist also unglaublich voll von Erfahrungen und Eindrücken die mir das Land und speziell die Menschen dort gegeben haben. Alles was ich schreibe müsst ihr deswegen mit dem Hintergrundwissen lesen, dass es nur einen Bruchteil von dem wiederspiegeln kann, was ich eigentlich an Erfahrungen mitnehmen konnte. Falls ihr also noch unbedingt etwas mehr wissen wollt, dann schreibt mir einfach lenheidjann@aol.com. Das Haupstatement meines Textes stelle ich deswegen direkt an den Anfang: Nicaragua ist ein tolles Land, zum Teil sehr kompliziert, aber egal ob zum Entspannungsurlaub, zum Abenteuertrip, oder zum eintauchen in eine fremde Kultur und arbeiten in sozialen Projekten, auf jeden Fall einen Besuch wert. Ich habe mich in viele Dinge dort sehr verliebt, aber gleichzeitig auch gemerkt was es doch für Vorzüge hat,  in Deutschland zu leben.

Weg sein…

Das war für mich der zentrale Gedanke. Wie fühlt es sich an Deutschland ein Jahr zu verlassen, meine Familie und Freunde ein Jahr nicht zu sehen? Ich habe mich gegen die Work and Travel Variante in Neuseeland oder Australien entschieden und mir vorgenommen, ein Jahr in etwas komplett anderes einzutauchen.

Mit Freiwilligenarbeit in Nicaragua

Freiwilligenarbeit, das wollte ich machen. Leben in einer Gastfamilie, feste Arbeit an einem Ort, der Aufbau eines gewissen Alltags in einem fremden Land. Die Idee kam mir ungefähr im September des Vorjahres meiner Abi- Prüfungen. Ab Januar hatte ich meinen Platz und nach viel Vorbereitung und Seminaren mit meiner Entsendeorganisation war ich dann letztes Jahr im August auch schon da. Hineingeworfen in ein fremdes Land. Jetzt bin ich seit ungefähr zwei Monaten wieder in Deutschland und ich fühle mich gleich – hineingeworfen in ein fremdes Land.

Viva Nicaragua…

Nicaragua liegt in Zentralamerika unter Honduras und über Costa-Rica. Man kennt es vielleicht dadurch, dass unsere Eltern vielleicht mal auf dem Trip waren fair- gehandelten Nicaragua-Kaffee zu kaufen, oder wenn man sich für die Geschichte der Welt interessiert aus dem Revolutions- und Bürgerkrieg. Ehrlich gesagt aber haben die meisten nicht wirklich eine Ahnung wo oder was Nicaragua ist. Oft genug hörte ich Sätze wie „Wie wars denn bei dir in Afrika?“, „Du kannst jetzt bestimmt richtig gut Englisch oder?“. Manchmal ist das witzig, oft nervt es aber auch.

Nicaragua ist ein vielseitiges Land

Wie auch immer, Nicaragua ist ein Land mit unglaublichem Potenzial. Sehr arm, sehr verrückt, sehr unorganisiert, teilweise gefährlich, aber auch gleichzeitig sehr liebenswert, sehr spannend und absolut lebenswert. Naturkatastophen, Kriege und Diktatur verhalfen dem Land zu seinem jetzigen doch sehr niedrigen Entwicklungsstand. Dass der Krieg noch bis vor ungefähr 35 Jahren tobte ist an vielen Orten zu spüren. Es gibt wenig Infrastruktur, Freizeitmöglichkeiten sind beschränkt, fehlende Aufklärung der Bevölkerung, große Bildungslücken, eine hohe Analphabetenrate und an den falschen Orten viel Kriminalität und Gewalt. Trotzdem lieben die Nicaraguaner ihr Land wie kein zweites und jeder mit dem ich in diesem Jahr Kontakt hatte ist zu 100% stolz Nicaraguaner zu sein. Also „Viva Nicaragua“.

Familia de huésped

Ich durfte ein Jahr in einer überaus netten Gastfamilie leben und mir den Familiennamen Lennard Castillo Parrilla Rodríguez auf die Brust schreiben. Das klingt doch schon eindrucksvoller als jeder deutsche Nachname, den man so haben kann oder? Nicaraguanische Familien sind generell recht groß und haben eine hohe gesellschaftliche Bedeutung. In vielen Fällen bewegen sich die sozialen Kontakte nur innerhalb der Familie. Ich hatte das Glück in einer sehr heilen Familie zu leben. Mann und Frau sind seit ihrer Jugendzeit ein Paar und scheinen sich sehr lieb zu haben. Dies ist oft speziell von der Seite der Männer nicht der Fall. Gastgeschwister hatte ich drei, mit so exotischen Namen wie Jackmar, Itzel und Darwín. Mein Haus war auf den ersten Blick ein großer grauer Klotz ohne viel Charme. Keine Farbe an den Wänden, wenig Einrichtung, Wellblechdach und eine Dusche mit kaltem Wasser. Im Laufe des Jahres habe ich das alles sehr schätzen gelernt und nachdem ich mir Internet und eine Hängematte für den Innenhof besorgt hatte, fehlte es mir wirklich an nichts. Geweckt worden bin ich jeden Morgen durch die Hähne des Nachbarn. Jeden ersten Sonntag im Monat wurde dieser aber dann in die Suppe geworfen, dann hatte ich erstmal wieder ein bisschen Ruhe.

Trabajo en INSFOP

Mein Tage als Nicaraguaner waren immer sehr unterschiedlich, da niemand immer genau weiß, was für den heutigen Tag an Arbeit anliegt, oder ob überhaupt Arbeit anliegt. Trotzdem, jeden Morgen so ungefähr um acht Uhr, je nach meiner Schlafmotivation verließ ich nach meinem Nica- Frühstück (Bohnen und Reis) „Gallo Pinto“ mein Haus und radelte zur Arbeit. Meine Arbeit war ein aus der EU und Taiwan finanziertes Projekt, welches sich mit Spaltung in diverse Unterprojekte die Rechte und Erziehung der Kinder und Jugendlichen in den Vororten der Stadt zur Aufgabe gemacht hat. Ich arbeitete in dem Bereich der „Re-Integration“ von Jugendlichen Vorstadtkriminellen zurück in die „normale“ Gesellschaft. Re-Integration insofern, dass Schul/- Ausbildungsplätze vermitteln, Seminare über sexuelle Aufklärung oder gewaltfreie Kindererziehung, zu den Zielen der Organisation gehören.

Hilfe für Jugendliche

Marihuana rauchen, Kleber schnüffeln, ab und zu jemanden einer anderen Gang verprügeln, jeder Frau hinterherpfeifen, oder einfach nur den ganzen Tag mit seinen „majes“ (Kumpel) auf der Straße abhängen, ist so ungefähr der Tagesablauf dieser Jugendlichen. Das war für mich nicht immer leicht, nahm ich mir doch nie das Recht heraus als Deutscher aus gutem Hause dort hinzukommen und zu sagen „Hört mal Jungs, Gras rauchen ist schlecht, lasst das mal bleiben“. Mein Ziel war immer mich mit den Jungs auf einer anderen Ebene unterhalten zu können als „gib mir mal ein bisschen Kohle, du hast doch so viel“. Manche haben am Ende verstanden, was genau ich eigentlich dort will und wieso ich da bin, für viele jedoch bin ich wahrscheinlich trotzdem ein nerviger Weißer geblieben, der ihr Leben sowieso nicht versteht. Jedoch konnte ich später alleine mit meinem Fahrrad durch die „barrios“ (Außenviertel) fahren und jeder wusste wer ich bin und grüßte mich, das war mein Erfolg.

Soy Esteliano…

Mitten in einem Tal, der sich zur Grenze Honduras erstreckenden Gebirgskette „Nueva Segovia“, liegt Estelí. Estelí gehört mit grob 100.000 Einwohnern nach der Haupstadt Managua zu den größeren Städten Nicaraguas. Die Stadt lebt von der Tabakindustrie. Über 20 Tabacaleras (Tabakfabriken) gibt es, deren Besitzer ausschließlich Amerikaner oder Kubaner sind. Laut Berichten verdient sich ungefähr jeder dritte Estelianer sein Geld mit dem Rollen von Zigarren, die später in Amerika und Europa für sündhaft teures Geld verkauft werden. Von dem Geld sehen sie selbst leider sehr wenig. Neben Tabak gibt es in Estelí Kaffee, viel Kaffee. Kino, Shoppingstraßen und dergleichen sucht man in Estelí wie in fast allen Städten (Ausnahme Managua) Nicaraguas vergeblich. Trotzdem hat Estelí alles, was man zum Leben braucht, man muss nur lange genug danach suchen, oder viele Sachen ohne zu viel nachzudenken einfach machen. Bis ich zum Beispiel rausgefunden hatte, wo ich mich sportlich betätigen konnte ist viel Zeit vergangen. Hinterher konnte ich aber doch in einer Basketball-Liga mitspielen, auch wenn der Sport eigentlich nicht so meins ist. Irgendwann wusste ich, wo ich am besten abends Bier trinken gehe, oder wo ich Leute zum Musikmachen finde.

Zurechtfinden in Nicaragua

Man findet alles mit der Zeit raus und irgendwie funktioniert alles. Das ist ein wesentliches Merkmal Nicaraguas. Also, ich fühlte mich dort wirklich zu Hause, kannte die Stadt und die Menschen. Nach jeder Reise, die ich innerhalb dieses Jahres gemacht habe, freute ich mich zurück nach Estelí zu kommen, in mein Zimmer zu der Gastfamilie, zurück ins durch die Lage bedingte angenehm kühle Klima Estelís. Nach ein paar Monaten bewegte ich mich so frei wie in Deutschland, immer mit gewisser Vorsicht, sich zum Beispiel Nachts nicht in die falschen Viertel zu begeben oder nicht in irgendein Taxi einzusteigen um von der Disko nach Hause zu kommen, aber immer ohne Angst.

Dale Viaje

Gereist bin ich in diesem Jahr sehr viel. Die Gelegenheit Nicaragua und Mittelamerika zu erkunden hat man auch schließlich nicht oft in seinem Leben. Soweit meine Urlaubstage es zuließen, wobei da auch oft ein Auge zugedrückt wurde, erforschte ich mit meinen deutschen Mitfreiwilligen, die auch in Estelí arbeiteten und lebten, jedoch in unterschiedlichen Familie und Projekten, jeden Platz in Nicaragua, der es lohnenswert war zu besuchen. Davon gibt es viele. Aufgrund der geschichtlichen und wirtschaftlichen Situation Nicaraguas ist der Tourismus ein noch verhältnismäßig wenig erschlossener Zweig. Natürlich gibt es Hostels, teure, billige, aber generell ist Reisen sehr erschwinglich, wenn man ein bisschen aufs Geld achtet.

Wunderschönes Nicaragua

Nicaragua hat Vulkane die man besteigen kann, wunderschöne Pazifikstrände, an denen keine Hotelburgen stehen und die man mit etwas Glück völlig für sich allein hat, alte Kolonialstädte, die mit interessanter Architektur trumpfen könne, die größte zusammenhängende Regenwaldzone Mittelamerikas, riesige wunderschöne Seen und eine Karbikküste mit garantiertem Robinson Crusoe- Feeling. Das alles als unverbindliche Reisewerbung. Fast alles lässt sich mit dem Bus erreichen, dem einzigen und besten Transportmittel.

Günstig Reisen

Die alten Schulbusse aus Amerika sind niemals voll, es passt immer noch ein Fahrgast mehr rein, zur Not gehts aufs Dach. Trotz voller Ladung meistern sie jede Steigung und jede noch so schlechte Straße. Umgerechnet kann man für fünf Euro einmal quer durchs ganze Land reisen. In keinster Weise vergleichbar mit der von uns so geliebten Deutschen Bahn.

Lennards Abenteuer-Trip

Meine schönste Reiseerfahrung war ein Trip, den ich nach Weihnachten mit einigen guten Freunden antrat. An der Ostküste Nicaraguas, also die Karibische Seite, gibt es eine Insel, die mit Katalog-Stränden und viel Unberührtheit trumpfen kann. Der Weg dorthin führt erst mit der Straße tief in den Dschungel, von da weiter mit einem kleinen Schnellboot über einen Fluss, bis man auf dem offenen Meer rauskommt und mit einem etwas größeren Boot nach 5 horrenden Stunden voller Übelkeit und hohem Wellengang an einer wunderschönen Insel namens Corn Island zu Land gehen kann. Zwei Tage brauchten wir für diesen Trip und bezahlten für alle drei Transportmittel ungefähr um die 15 Euro. Zehn Tage verbrachten wir dann in der Karibik, Silvester feierten wir am Strand, schnorchelten mit vielen bunten Fischen und pflückten unsere eigenen Kokosnüsse. Eine Wunderschöne Zeit. Nicaragua hat unglaublich viele schöne Orte, jeder auf seien eigene Weise reizvoll.

Y Ahorra?

Nicaragua ist eine Empfehlung, eine Art Geheim-Tipp für jeden, der eine Reise ins Ausland plant. Egal ob Weltreise, Freiwilligendienst oder Mittel-/Südamerikatour, jeder der es irgendwie einrichten kann sollte dort mal vorbeifahren. Ich speziell empfehle jedem, der vielleicht nicht unbedingt den Fokus auf Backpacking in Australien und Neuseeland legen will, die komplett andere Alternative Nicaragua. Vorurteile, die vielleicht vor Mittelamerikanischen Ländern existieren sollte man schnell beseite legen. Natürlich ist Nicaragua kein ungefährliches Land, aber solange man ein bisschen weiß, wie man auf sich selbst aufpasst, dann passiert einem in der Regel nichts. Mir wurde das ganze Jahr über nichts geklaut außer meiner Badehose. Wer darauf steht sich mit Kommunikation viel zu erschließen wird auf viele hilfsbereite Menschen treffen. Nicaragua verändert sich. Wie jedes Land wird es kommerzieller und entwickelt sich weiter. In zehn Jahren wird es ein komplett anderes Land sein, ein Besuch jetzt grade ist von meiner Seite aus absolut empfehlenswert und interessant. Ich hatte ein sehr bewegtes Jahr mit längst nicht nur positiven Momenten und oft habe ich mich auch gefragt, was ich eigentlich dort soll, aber im Endeffekt war ich immer glücklich.

Por eso, Viva Nicaragua!